Die Spielregeln von gestern

Alle Spielregeln der Prä-Prä-Singularitätszeit beruhen darauf, das Utopien per definitionem unerreichbar sind. Je tiefer wir jedoch in die explodierende Wolke der exponentiell zunehmenden Möglichkeiten dieser technologisch beschleunigten Zeiten eintauchen, desto realer wird das, was vormals als utopisch denunziert wurde. Der Ausguck wird immer häufiger mit Menschen besetzt werden, die den Nebel der Möglichkeiten durchdringen können, weil sie an Utopien festhalten.

4 Gedanken zu „Die Spielregeln von gestern“

  1. Je mehr ich hier über Singularität lerne, desto mehr stechen mir die Parallelen zum jüdischen Messianismus ins Auge. Ich finde das unglaublich interessant, weil ich mich länger damit beschäftigen durfte. Ich will hier zur Anregung nur kurz Benjamin zitieren und das dem mal gegenüberstellen:
    Den Juden wurde die Zukunft aber darum doch nicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Sekunde eine kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.
    Zum Begriff der Geschichte. GS I.2 704

  2. Oberflächlich betrachtet gewiss. Schliesslich ist das eine unserer Tendenzen bei der Aneignung von wirklich Neuem: Reduktion auf schon bekanntes. Wie ich irgendwo schon mal andeutete: Was da so kitzelt sind die eschatologischen Ähnlichkeiten. Aber es sind nur Ähnlichkeiten. Man könnte diese Ähnlichkeiten dann noch differenzieren in apokalyptische, eschatologische und messianistische Elemente. Aber bei genauer Betrachtung läuft das alles ins Leere. Ist übrigens im SL4Wiki unter DeadHorses zu finden. Die Diskussionen dazu liefen im Jahr 2001.

    Nett finde ich den Vergleich mit den apokalytischen Zukunftsentwürfen im kalten Krieg: War deswegen der kalte Krieg und seine strategischen Denker (Kahn etc) eine Religion? Gewiss nicht, auch wenn es in Kubriks „Wie ich die Bombe lieben lernte“ so erscheinen mag 😉

    Zoomt man sich in die Singularitätsphase hinein, dann stellt sich das meines Erachtens auch nicht so dramatisch/eschatologisch dar wie der Begriff suggeriert. Es ist kein Ende, allenfalls eine Durchgangsphase die von erheblichen Turbulenzen gekennzeichnet sein wird. Noch ein Dämpfer: „Singularität“ ist ein Zukunftsszenario unter vielen anderen, ist also nicht mit der Eigenschaft der Ausschliesslichkeit vieler Religionen behaftet und hat implizit das aktive Element, das Menschen es selbst hervorbringen können. Da kütt nix von selbst, wie in messianistischen Zukunftsentwürfen.

  3. Nun, gerade die von dir genannten Punkte finde ich besonders einschlägig. Jüdischer Messianismus, jedenfalls durch die Benjaminsche Brille betrachtet, ist eben kein fatalistisches Auf-Die-Zukunft-Warten, sondern hat eine sehr aktive Rolle. Es ist ein sehr aktives Hoffen, das sein Jetzt immer von dieser Ankunft her begreift.

    Natürlich ist der Utopiebegriff nicht per se ein positives Versprechen. Es ist genauso gut eine Drohung, wahrscheinlich sogar beides Zugleich. (Was dem Kahn ein Versprechen, ist dem Kubrick eine Drohung) Aber auch der Messias ist nicht einfach nur positiv konnotiert. Die Legende vom „Lieben Gott“ ist vor allem eine christliche Erfindung. Was der Messias macht, das weiß niemand. Er ist nicht gut oder böse. Er ist gar nicht. Er wyrd… 😉

    Eine andere Parallele ist genau dieses Geschichtsverständnis, das Du z.B. mit dem Begriff der „Prä-Singularitätszeit“ und gar der „Prä-Prä-Singularitätszeit“ offenbarst. Es ist das „Schauen“ von einem unbestimmten aber sicher geglaubten Fixpunkt in der Zukunft aus, „zurück“ in die Gegenwart. Einer Modalität, der nur im Futur II wirklich Rechnung getragen werden könnte.
    (Es wäre interessant „Back to the Futur“ danach zu analysieren.)
    Man müsste eigentlich sagen: Die Prä-Singularitätszeit ist nicht und ist auch nicht gewesen, sondern sie wird gewesen sein. Sie wird dies und das gewesen sein, wenn denn die Singularitätszeit eingetroffen ist.

    Im Übrigen kümmere ich mich wenig um so unscharfe Begriffe wie Eschatologie und Religion. Nicht in ihrer allgemeinen Form jedenfalls. Mir sind diese Begriffe viel zu eng gefasst. Wer kann schon sagen, wo Religion aufhört oder anfängt, wenn man doch alles, was man zu wissen glaubt, zunächst einmal glauben muss.

    Aus dieser Perspektive verdichten sich alle Argumente, zusammengetragene Fakten und Wahrscheinlichkeiten auf eine einzige Entscheidung zwischen Gauben und Nicht-Glauben.

  4. @ mspro. Die Unschärfe der Begriffe Eschatologie und Religion ist denselben immanent und der Satz „wenn man doch alles, was man zu wissen glaubt, zunächst einmal glauben muss “ hat zwar seinen Reiz, entschuldigt aber eine IMHO unzulässige Grenzverwischung, von der immer jene profitieren, die verwischen. Ansonsten denke ich, hast Du sehr luzide eine Analogie zum jüdischen Messianismus aufgezeigt, ist mir neulich nach der Lektüre von Benjamin und Baudrillard (aus anderer Perspektive) auch ins Auge gestochen … Mehr dazu s.tp !

Schreibe einen Kommentar